Nr. 1/2023
Zahlen der in 2022 erledigten Verfahren wieder auf Niveau der Zeit vor der Corona-Pandemie / Klagen mehrerer Gemeinden und Städte gegen die „Heimatumlage“ 2022 im Mittelpunkt / Erledigung der zur Corona-Kontakt- und Betriebsbeschränkungsverordnung und zur Coronavirus-Schutzverordnung anhängigen Normenkontrollklagen für 2023 angestrebt / Mündliche Verhandlung in den Verfahren betreffend die Gründung und den Betrieb der „Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit“ für 2023 geplant / 53. Jahrestagung der Präsidentinnen und Präsidenten der Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder vom 11. bis 13. Mai 2023 in Wiesbaden / Hessischer Staatsgerichtshof feiert sein 75jähriges Bestehen.
„Auch wenn die Corona-Pandemie 2023 endgültig endemisch geworden sein sollte, werden Verordnungen, die 2021 in der Hochphase der Pandemie zu ihrer Bekämpfung ergangen sind, auf Normenkontrollklagen hin abschließend zu überprüfen sein. 2023 wird der Staatsgerichtshof ferner Fragen zu den formalen Anforderungen an das Zustandekommen von Gesetzesbeschlüssen unter Bedingungen der Corona-Pandemie sowie zu Inhalt und Reichweite der Wissenschaftsfreiheit und des Selbstverwaltungsrechts der Hochschulen nach den Vorgaben der hessischen Verfassung klären. Nach den derzeitigen Planungen soll eine mündliche Verhandlung betreffend die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zur Gründung der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit (HöMS) im Juli durchgeführt werden. Soweit die klagenden Fraktionen sich gegen den Inhalt des Gesetzes wenden, wird die Vereinbarkeit der Regelungen des angegriffenen Gesetzes zur Organisationsstruktur der HöMS und zur Ausgestaltung der Rechtsstellung der Professorinnen und Professoren der Hochschule mit der verfassungsrechtlich gewährleisteten Wissenschaftsfreiheit (Art. 10 HV) und dem Recht der Hochschulen auf Selbstverwaltung (Art. 60 HV) in Zweifel gezogen“, führte der Präsident des Staatsgerichtshofes Dr. Wilhelm Wolf heute anlässlich der Jahresbilanz des hessischen Verfassungsgerichtes in Wiesbaden aus.
Im Jahre 2022 seien 36 Verfahren und damit deutlich weniger als im vorangegangenen Jahr (70) beim Staatsgerichtshof eingegangen. Dieser signifikante Verlauf in der Entwicklung der Verfahrenseingänge sei erkennbar von der Corona-Pandemie beeinflusst. Nach deren Höhepunkt im Jahre 2021 sei mit dem allmählichen Nachlassen der Intensität des pandemischen Geschehens und der dieser Entwicklung folgenden Rücknahme hoheitlicher Schutzmaßnahmen auch die Zahl der hiergegen gerichteten Grundrechtsklagen zurückgegangen. Dem Rückgang der Eingänge, die in 2022 wieder in etwa auf dem Niveau von 2019 lägen, stehe eine Steigerung der Erledigungszahlen gegenüber. Während 2021 48 Verfahren abgeschlossen werden konnten, fanden im letzten Jahr 56 Verfahren ihre Erledigung. Auch insoweit bewege man sich wieder auf dem Niveau der Verhältnisse vor Corona (2019: 55; 2020: 51).
„Mit dem Beginn des neuen Jahres nähern wir uns dem ersten Jahrestag des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar. Das unermessliche menschliche Leid, die vielfältigen existentiellen Bedrohungen für die ukrainische Bevölkerung, die weltweiten politischen Auswirkungen, die enormen wirtschaftlichen Verwerfungen und das Ende der beruhigenden und leider täuschenden Gewissheit der Unmöglichkeit eines Krieges in Europa beginnen wir erst langsam in ihren Dimensionen zu begreifen. Dieser Krieg erschüttert auch die europäische Verfassungstradition, der die Idee des Rechts als Friedensordnung immanent ist. Aber gleichzeitig zeigt sich, wie lebendig und zentral das Verlangen nach und die Wertschätzung für rechtsstaatliche Verfahren und Garantien gerade dort sind, wo ihre Umsetzung und Realisierung besonders schwierig erscheint. Es ist nicht der Ruf nach Rache, der etwa nach der Aufdeckung der Verbrechen in Butscha und Irpin die Stellungnahmen der ukrainischen Öffentlichkeit prägte, sondern die Forderung nach Sicherstellung von Beweisen, nach der Einleitung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen und der Vorbereitung strafgerichtlicher Verfahren, in denen die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Nach- und eindrücklicher kann man die Forderung nach rechtsstaatlichen Strukturen in der Reaktion auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit kaum erheben. Wer diese dramatischen Ereignisse verfolgt, dem sollte bewusst werden, welch hohen Wert ein funktionierender Rechts- und Verfassungsstaat für jeden Einzelnen wie für die Gesellschaft besitzt. Seine Institutionen, Gerichte, Staatsanwaltschaften und Vollstreckungsorgane bieten die Gewähr für ein dauerhaftes friedliches Miteinander, in dem die Anwendung von nicht gerechtfertigter Gewalt zur Lösung von Konflikten nicht akzeptiert, sondern sanktioniert wird und in dem der Gedanke wachsen kann, dass auch Kriegsverbrechen in rechtsförmigen Verfahren geahndet werden. Es ist meine Hoffnung für dieses Jahr, dass der Wunsch nach Frieden sowie der Ruf nach dem Rechtsstaat sich für die Ukraine erfüllt und gleichzeitig unsere eigene Wahrnehmung und Wertschätzung für unseren Verfassungsstaat und seine Institutionen inspiriert“, führte Dr. Wilhelm Wolf weiter aus.
Im Mittelpunkt der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes standen im vergangenen Jahr insbesondere die kommunalen Grundrechtsklagen der Gemeinde Biebergemünd, der Städte Büdingen, Schwalbach am Taunus und Stadtallendorf sowie der Stadt Frankfurt am Main zum Gesetz über das Programm „Starke Heimat Hessen“. Nach der mündlichen Verhandlung am 06. Juli 2022 hat das Verfassungsgericht die Klagen mit Urteil vom 12. Oktober 2022 als zulässig, aber unbegründet zurückgewiesen.
„Mit der Entscheidung zur sogenannten „Heimatumlage“ hat der Staatsgerichtshof grundlegende Fragen zur Reichweite des in Art. 137 der Hessischen Verfassung (HV) garantierten kommunalen Selbstverwaltungsrechts geklärt. Danach schließen Art. 137 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 HV ebenso wie die staatliche Pflicht zur Durchführung eines kommunalen Finanzausgleichs nach Art. 137 Abs. 5 HV eine gesetzliche kommunale und horizontale Finanzumlage, wie sie mit der „Heimatumlage“, die auf das kommunale Gewerbesteueraufkommen zugreift und für bestimmte kommunale Zwecke erhoben wird, nicht aus. Das gilt jedenfalls dann, wenn das eingreifende Gesetz auf Gründen des Gemeinwohls beruht und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber bei der Erhebung von Umlagen insbesondere den Anspruch der Kommunen auf eine angemessene Finanzausstattung zu beachten. Diesen Maßgaben ist der Gesetzgeber mit dem Gesetz über das Programm „Starke Heimat Hessen“ vom 31.10.2019 gerecht geworden“, erläuterte Dr. Wilhelm Wolf.
Vom 11. bis 13. Mai dieses Jahres wird der Staatsgerichtshof Gastgeber der 53. Jahrestagung der Präsidentinnen und Präsidenten der Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder sein. „Ich freue mich, die Kolleginnen und Kollegen aus 15 Bundesländern und vom Bundesverfassungsgericht zu unserer Arbeitstagung in Fortsetzung dieser traditionsreichen Treffen, in denen im Geiste des Föderalismus der fachliche und persönliche Austausch zu aktuellen verfassungsrechtlichen und verfassungsgerichtlichen Themen im Vordergrund stehen wird, in unserer Landeshauptstadt Wiesbaden begrüßen zu dürfen“, kündigte Dr. Wolf an. „Wir werden die Gelegenheit der Tagung u.a. auch nutzen, in Wetzlar dem dortigen Reichskammergerichtsmuseum einen Besuch abzustatten, um uns über die Geschichte und Arbeitsweise eines wichtigen historischen Vorläufers der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit zu informieren, an dem Johann Wolfgang Goethe als Praktikant schon 1772 wirkte“, erläuterte Dr. Wolf zum Tagungsprogramm weiter.
Im Jahr 2023 feiert der Staatsgerichtshof schließlich den 75. Jahrestag seines ersten Zusammentretens am 3. November 1948. „Die Planungen für einen Festakt zu diesem Anlass laufen. Wir freuen uns, dieses Jubiläum mit vielen Gästen aus der Politik, der Gesellschaft und der Justiz in angemessenem Rahmen zu würdigen“, stellte Dr. Wolf abschließend in Aussicht.